ITT Die Eroberung Mythodeas IV - VI

Aus Mythopedia

Die Eroberung Mythodeas IV-VI   

...etwa zwanzig Tagesreisen

südlich des westlichen Siegels,

kurz nach seiner Öffnung...

Die Herbstwinde bliesen in den Rücken der Kolonne, die sich langsam nach Süden ergoss. Die Schlacht auf den Feldern des westlichen Siegels lag er erst fünfWochen zurück, da hatte Prinz Herbst Königin Sommer bereits seit Tagen das Szepter abgetrotzt und es schien nicht so, als ob er die geringste Absicht hätte, es sich wieder nehmen zu lassen. Die Viva-Elementis-Rufe waren bereits längst verklungen. Jede Freude über den Sieg über das Schwarze Eis war Vergangenheit und machte einer grimmigen Anspannung Platz. Würde es ihnen gelingen, das südliche Siegel vor dem Feind zu erreichen? Die wenigsten Männer wussten, was genau eigentlich passiert war in jenen turbulenten Stunden nach der Schlacht, in der die Avatare den Sharuhn'Ar gezwungen und vertrieben hatten. Fortan war eigentlich nur noch alles schief gelaufen. Dem Schwarzen Eis selbst war man faktisch nicht mehr begegnet, das gesamte Land der Ebene war von dem verderbten Element gesäubert, lediglich die Gebirgskette war von seinen Kriegern besetzt. Der Marsch nach Süden jedoch kam kaum voran. Das Heer litt an einer Epidemie. Jeden Tag meldeten sich mehr Männer krank. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis die Armee die ersten Toten am Wegesrand zurücklassen würde. Die unnatürliche schwüle Feuchtigkeit des Frühherbstes ließ die Rationen der Männer faulen und das Wasser in ihren Flaschen brackig werden. Kadaver verendeter Tiere trieben im durch zahlreiche Algen trübgrün gewordenen Fluss und machten Aquas Gaben ungenießbar. An diesem Abend schlugen die Männer ihr Lager in den Niederungen des Deltas des Flusses auf. Das südliche Meer lag kaum mehr als einen Tagesmarsch entfernt. Die quälende Ungewissheit der Männer steigerte sich langsam aber sicher in eine wachsende Panik. Hatten sie das Siegel auf ihrem weg verfehlt? Mit klirrender Rüstung marschierte Dentor, ein Ordenskrieger der Achenar, zum Zelt des Kommandierenden. Die Hälfte des Ständigen Kriegsrats lag bereits im Lazarett, und so mancher der anderen Recken, die um den Kartentisch versammelt standen, klammerte sich mehr an der Tischkante fest als dass er aufrecht davor stand. ”Achenar zum Gruße“, meldete sich der Ordenskrieger. ”Ich komme in Vertretung meines Herrn, der krank im Lazarett daniederliegt.“ ”Da befindet er sich in guter Gesellschaft“, knurrte der Kommandierende. Niemand hatte ihm offiziell den Oberbefehl über die vereinigten Truppen der Elemente übertragen, und im Augenblick füllte er dieses Amt auch nur wegen der Epidemie aus. Er hegte nicht auch nur die geringste Illusion über die Dauer des Bündnisses. Bereits jetzt fügten sich die anderen nur noch widerwillig seinem Rang, weil sie keinen gleichwertigen aufweisen konnten. Sobald die anderen wieder genesen waren, würden die unterschiedlichen Ziele U respektive die unterschiedliche Herangehensweise auf das grob gemeinsame Ziel U das fragile Bündnis zu zerreißen. Die Vermittlung durch die Achenar wurde mehr und mehr zur aufreibenden Dauerkatastrophe für die Mitglieder des Ordens, und der Schlafmangel forderte bereits schweren Tribut. Dentor verbeugte sich knapp und ignorierte den bissigen Kommentar des Kommandierenden. Er stellte sich neben den Kartentisch und fasste die Kante mit beiden Händen. Seine Schultern zuckten in Erwartung der lang entbehrten Entspannung. ”Wir haben Späher ausgesandt“, sagte Terger, der Abgesandte Aeris' gerade. ”Diese sollten spätestens zur achten Stunde zurück sein und uns Bericht über das vor uns liegende Gebiet bis hin zum südlichen Meer geben. Wenn das Siegel sich dort befindet, werden wir es wissen.“ ”Was heißt hier wenn?“ donnerte Wolfhard, der Abgesandte Ignis'. ”Es heißt, es sei das Siegel des Südens, und im Süden befinden wir uns, und allzu weit kann es nicht mehr weitergehen. Meine Kundschafter haben berichtet, dass das Land bereits wieder einen Bogen nordwärts beschreibt.“ ”Keine der Quellen sagt aus, das Siegel befinde sich zwingend auf dieser Seite des südlichen Meeres“, merkte Meredin an. Er zählte sich zum Gefolge Aquas, wenn er auch nicht bereit war, für den Avatar im Kampf gegen die Verfemten zu fallen. Viele der hier am Tisch Versammelten nannten ihn einen rücksichtslosen Opportunisten, der an nichts glaubte, aber das stimmte so nicht. Meredin glaubte an nichts so sehr wie an sich und seine Fähigkeit, jede sich stellende Herausforderung zu meistern. Seine Anhängerschaft zu Aqua hatte in der Tat pragmatische Gründe; er liebte die massierte Anwesenheit von Heilern in der Schlacht. Es erhöhte die Überlebenschancen einfach ungemein. ”Ach, sagen sie das nicht?“ donnerteWolfhard. ”Nein“, versetzte Meredin mild. ”Die Prophezeiungen wie die Naldar erklären, die Siegel lägen sämtlich auf Mythodea, oder, wie sie es nennen, Mitraspera. Wenn also das Siegel sich, wie Ihr sagt, nicht hier befindet, dann lügen die Prophezeiungen.“ Tergers Stimme unterbrach den Streit der beiden. ”Darf ich vorschlagen, den nächsten Tag abzuwarten?“ schnitt die ruhige Stimme Dentors durch den Raum. ”Dann werden wir so oder so Bescheid wissen.“ Die Blicke der Anwesenden wandten sich ihm zu. ”So soll es sein“, schloss der Kommandierende die Versammlung. Das Heer lagerte weiter im Delta des Flusses. Gierige Moskitos stürzten sich in Schwärmen auf die Soldaten und wurden allgemein für die grassierende Ausbreitung des Durchfalls verantwortlich gemacht. Ein stetiger Geruch von Fäkalien lag über dem Lager und sorgte auch bei den wenigen Gesunden schnell für Übelkeit. Die Nachricht von der Rückkehr der Späher lief von Zelt zu Zelt, und wer noch laufen konnte schleppte sich bald zum Appellplatz. Alle Augen richteten sich auf das große Kommandozelt. Die Farben der Elemente schmückten die Stoffbahnen, doch die von herbstlichem Wetter verdeckte Sonne ließ selbst sie krank und blass erscheinen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Eingangszeltplane zur Seite geschlagen wurde und der Kommandierende mit einem Naldar erschien. ”Männer“, setzte er an, hustete kurz, griff sich an die Brust und rang nach Atem. Erst dann sprach er weiter, unter dem ausdruckslosen Blick des Naldar. ”Morgen früh brechen wir unser Lager ab.“ Schwacher Jubel erhob sich, den der Kommandierende mit weitreichender Gestik schnell erstickte. ”Unsere Späher haben die Südspitze Mythodeas entdeckt. Der südlichste Punkt ist überschritten.“ Wieder Husten, ein Griff an die Brust, das Gesicht Schmerz gepeinigt. ”Ein Siegel war nicht zu finden.“ Das Heer erschien in dem eisernen Griff der Enttäuschung wie ein großer, gemeinsamer Körper, der unisono reagierte. Die mühsam aufrecht erhaltene Hoffnung, die Strapazen seien zu Ende und man sei dem Schwarzen Eis zuvorgekommen, war mit einem Schlag zunichte. ”Wir werden wieder nach Norden ziehen und unser Winterlager beziehen. Im Frühjahr werden wir uns weiter auf die Suche machen. Viva Elementis.“ Nur schwach und vereinzelt wurde der Ruf aufgenommen, dann zerstreuten sich die Männer wieder. Bereits in der Nacht marschierten die Streitkräfte Ignis' ab. Am nächsten morgen folgten die anderen nach, und eine jede Macht bezog ihr Winterquartier. Das Bündnis war für den Moment beendet. Ob es wieder aufgenommen werden würde, das würde die Zukunft zeigen. ...im Gebiet des westlichen Siegels, etwa zwei Monate nach seiner Öffnung... Travin schlich sich zwischen den Felsen des westlichen Vorgebirges an die Gems heran. Das würde eine fette Beute für das heutige Abendmahl abgeben. Er liebte dieses raue Land, das die Entdecker Mythodea getauft hatten. Das Fehlen zänkischer und stets auf irgendwelche anachronistischen Privilegien pochender Adeliger machte sich immer wieder bezahlt. Die Gems graste zwischen den Steinen und wusste noch nichts von dem Schicksal, das Travin ihr zugedacht hatte. Er zog leise einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. Das Holz des Bogens knarrte leise, als er sie zurückzog und auf das Tier anlegte. Doch dieses Geräusch, kaum lauter als das Flüstern des Windes, schien das Tier aufmerksam gemacht zu haben. Es hob den Kopf und sprang davon. Travin fluchte leise und machte sich an die Verfolgung. Er hatte nicht vor, sich dieses veritable Prachtstück entgehen zu lassen. Schon seit Tagen verfolgte Jandrim die Rakhs des Schwarzen Eises durch das unwirtliche Gebiet der westlichen Vorgebirge. Seit der Schlacht am Westlichen Siegel waren sie auf ihrem verschlungenen und kaum nachvollziehbaren Weg unterwegs. Jandrim hatte erwartet, sie schnell bei einem der Portale zu verlieren, doch da hatte er sich geirrt. Obwohl die Rakhs direkt an einem der weißen Halbrunde vorbeimarschiert waren, hatten sie es nicht genutzt. Einmal hatte er ihre Spur verloren und zufällig wieder gefunden, als sie einen verlassenen Berghof nieder brannten, dessen Rauchsäule meilenweit zu sehen war. Er verstand diesen sinnlosen Akt der Zerstörung nicht, denn normalerweise bekämpfte das Schwarze Eis niemanden, der sich nicht wehren konnte, da sie keine Bedrohung für den Imperator darstellten und für eine Assimilierung als zu schwach galten. Das war es zumindest, was die erfahrenen Kämpfer berichteten. Travin glaubte bereits, die Gems verloren zu haben, als er am Eingang einer engen Schlucht das Rollen eines Steins hörte. Irgendetwas trieb sich dort herum. Langsam setzte er mit sicherem Tritt einen Fuß vor den anderen. Er sah auf den Rücken einer Gestalt, gewandet in dunklem, speckigem Leder und schwer bewaffnet, die gerade auf den Eingang der Schlucht zuschlich. Meine Beute! dachte Travin erbost. Du wirst sie mir nicht wegnehmen! Er rückte dem Kerl langsam nach und beobachtete jede seiner Bewegung. Dabei fragte er sich immer mehr, ob das so klug war, denn der Mann sah gefährlich aus, wie jemand, der schon so manchen unbequemen Kerl unter die Erde gebracht hatte, und er, Travin, was nun wahrlich nicht ein herausragender Kämpfer. Er hatte an einem Scharmützel gegen die Kräfte des Schwarzen Eises teilgenommen, und das war keine Erfahrung, die er wiederholen wollte. Die ausdruckslosen Gesichter seiner Feinde und ihre vollkommene Stille, wenn sie sich in den Kampf stürzten ließen in manchmal nachts schweißbedeckt erwachen, wenn er sich an sie erinnerte. Jandrim wusste, dass diese Schlucht hier der Endpunkt war. Sie hatte keinen weiteren Ausgang, und auch wenn sie mehrere Meilen tief in den Berg führte und sich noch stark verbreiterte: wenn kein Portal sich in ihr befand, würde der Schwarm sie nicht verlassen ohne auf ihn zu stoßen. Doch er konnte sich des Gefühls nicht erwehren verfolgt zu werden. Er drehte sich nicht um, um einen eventuellen Verfolger nicht zu warnen. Hinter einem schmalen Grat wollte er auf ihn lauern. Er drückte sich mit dem Rücken an die schroffe Felswand und zog seinen geschärften Dolch. Keine zehn Augenblicke später drückte sich ein in grobeWolle gekleideter und Bogenbewehrter Kerl an ihm vorbei. Mit schnellem Griff packte er ihn von hinten, presste die eine Hand auf seinen Mund und setzte mit der anderen das Messer an dessen Kehle an. ”Ein Laut, und dein Blut färbt diese Felsen rot! Wer bist du, und warum schleichst du mir nach?“ Er nahm die Hand vom Mund seines Gegners. Travin zitterte am ganzen Leib. ”Ich...ich...jage eine...Gems...“ Jandrim drückte den Mund wieder zu und zischte: ”Sehe ich aus wie eine Gems?“ Dann gab er Travin wieder frei. ”Nein...Herr...ich bin Euch nur zufällig...zufällig begegnet, Herr. Verzeiht!“ ”Vielleicht“, knurrte Jandrim. ”Weißt du, was sich in dieser Schlucht befindet?“ ”Nein, Herr.“ ”Jandrim heiß ich.“ ”Nein, Jandrim.“ Der Angesprochene knurrte noch einmal, ließ ihn fahren und ging weiter. Travin schwankte. Dann folgte er, ohne so recht zu wissen weshalb Jandrim. Fast eine halbe Sanduhr lang bewegten sie sich durch die breiter werdende Schlucht. Die Steilwände wirkten bedrohlich und finster, obwohl die Sonne im Zenit stand. Allzu warm war es trotzdem nicht. Der Herbstwind pfiff zwar nur über die Schlucht hinweg, aber die kalte Gebirgsluft schien sich geradezu in den Ritzen zwischen dem Stein festgesetzt zu haben. Plötzlich drückte ihn Jandrim hart gegen den Fels. ”Still!“ zischte er und kroch einen Abhang hinauf, um über die Kamm in das Becken der Schlucht zu spähen. Travin hörte abgerissene Rufe, die eine Gänsehaut über seinen Rücken jagten und verworrene Bilder in blau und schwarz durch seine Gedanken jagten. Jandrim sah den Schwarm, den er nun schon seit Wochen verfolgte. Sie hatten unter den Felsen ein Portal frei gelegt, das ihre in wallende Roben gewandeten beiden Hexer nun zu aktivieren zu trachten schienen. Auch Travin rückte nun auf die Kamm, was Jandrim mit einem bösen Blick quittierte, jedoch nicht weiter beachtete. Sie konnten den monotonen Singsang der Hexer zwar hören, doch dieWorte klangen fremd in ihren Ohren. Der Schwarm hatte Aufstellung genommen, vielleicht 30 Rakhs, flankiert von ihrem Sharuhn. Einer ihrer Fanatiker lief an ihrer Front entlang und begann zu brüllen. ”Rakhs! Ihr seid das Schwert des Imperators, und diese Klinge ist scharf! Wir werden unsere verräterischen Brüder mit der Wut der Gerechten hinwegfegen und ihre Makelbelasteten Leiber in die Essenz zurückführen! Für den Imperator!“ Wie ein Mann antwortete der Schwarm: ”Für den Imperator!“ ”Hua Imperator!“ intonierte der Fanatiker. ”Hua Imperator!“ antworteten die Rakhs. Die Hexer wichen zurück. Jandrim schien es, als drückte ihre Körperhaltung eine gewisse Furcht aus. Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall, und zwischen den beiden Hälften des Portals spannte sich knisternd ein Kraftfeld. Unordnung war in den Schwarm geraten. Alle wichen zurück. Jandrim und Travin blickten mit offenen Mündern hinüber. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Durch das Portal trat eine hochgeschossene, schlanke Gestalt in repräsentativen Panzer. Dunkle Augen lagen tief in den Höhlen und blickten den Sharuhn des Schwarms starr an. Seine donnernde Stimme durchschnitt die Stille, die kurz geherrscht hatte. ”Sharuhn!“ Dieser zog sein Schwert und trat auf die Gestalt zu. Mit einer beinahe verächtlich wirkenden Geste schlug der Neuankömmling dem Sharun die Waffe aus der Hand. ”Argus!“ hauchte Jandrim. Travin blickte verwirrt, wagte jedoch nicht zu fragen. ”Ich bin das Auge!“ dröhnte die Stimme. ”Ihr ward der Sturm! Doch ihr habt euch für die Vernichtung entschieden!“ ”Wer ist das?“ flüsterte Travin. Mit Schreck geweihteten Augen sah Jandrim ihn an. ”Das ist der Sharuhn'Ar, der Befehlshaber des Schwarzen Eises!“ Neben dem Sharuhn'Ar trat eine ebenso schlanke, etwas kleinere und unglaublich hellhäutige Frauengestalt. Bleiche Bänder umwehten sie wie Fetzen eines Leichenhemds, und ihr Kopf war von einem grauen Helm geschützt. Als sie ihren Mund öffnete, wurde ein Paar scharfer Reißzähne offenbar. Ihre Stimme klang wie das Reißen von Metall. ”Weicht zurück , ihr makelbelasteten Wesen!“ Die Gestalten in blau und schwarz leisteten ihrem Aufruf Folge. ”Du bist Viinshar!“ rief der Sharun'ar. ”Gib ihnen das Schicksal, das ihnen zusteht!“ Die Viinshar trat auf den Sharuhn zu, der augenscheinlich unfähig war, sich zu bewegen. Sie legte die Hand auf seine Brust und sprach einige Worte, fremdartig und vertraut zugleich, die den Stein in schriller Kakophonie zum Singen brachte. Schmerzerfüllt wendeten Jandrim und Travin sich ab. Als sie wieder nach vorne sahen, war der Sharuhn verschwunden. Die Rakhs knieten allesamt vor dem Sharuhn'Ar. ”Nun, meine Soldaten, erhebt euch und gliedert euch ein in die glorreichen Kräfte des Schwarzen Eises! Der Imperator ist nicht mehr. ICH gebiete nun über die Kräfte der Ordnung, und ich bin es, der dem Land den Frieden bringen wird!“ Die Viinshar und die Soldaten verschwanden, und nur der Sharuhn'Ar allein stand noch auf dem Feld. Er wandte seinen dunklen Blick zu Jandrim und Tarvin, wies mit seiner stahlklauenbewehrten Hand auf sie. Unausgesprochen hing das Versprechen eines Wiedersehens in der Luft. Dann trat das Auge des Sturms durch das Portal, und das Knistern verebbte, und das Kraftfeld verschwand. Doch diesen Augenblick würden weder Travin noch Jandrim jemals vergessen.

...weit im Süden Mythodeas,

etwa 35 Tagesreisen vom westlichen Siegel entfernt

und ca. ein halbes Jahr nach seiner Öffnung...

Der Winter hatte Einzug gehalten. Die gesamte Landschaft war unter einer weißen Decke verschwunden, die die Geräusche erstickte und eine Stille über das Land legte, die an ein Leichentuch gemahnte. Nichts schien die Ruhe zu stören, kein einziges Tier huschte über das Land oder durch das Gesträuch. Auch das Portal, halb versunken und vergessen, lag unter dem Schnee begraben. Es lag weit im Südosten, entfernt vom westlichen Siegel, wo seine Äquivalente jüngst zum Leben erwacht waren und Scharen von seelenlosen Kriegern in blau und schwarz auf die fruchtbaren Ebenen gespuckt hatten. Die Naldar hatten mit den Streitern der Elemente verzweifelt gegen die Horden des Schwarzen Eises gekämpft, bis diese endlich geschlagen werden konnten. Doch das Siegel wurde gebrochen, und die große Pestilenz fand ihren Weg nach Mitraspera. In lockerer Hocke-Stellung saß der Naldar-Krieger einige Pfeilschussweiten vom Tor entfernt da, den Bogen über die Knie gelegt und beobachtete das Portal. Seine weite Kleidung war bedeckt von schmelzenden Kristallen. Seit sie vor einigen Wochen von ihren Brüdern im Westen Kunde erhalten hatten, dass sich die Portale geöffnet hatten, beobachteten die Naldar sie. Doch die uralten Steine blieben stumm. Immer weiter fiel der Schnee. Schnüffelnd reckte ein Hase die Nase in die Luft und hoppelte einige Schritte auf das Tor zu. Er stellte sich auf die Hinterläufe und zog erneut witternd die Luft ein. Interessiert beobachtete ihn der Naldar. Ohne erkennbaren Grund wandte sich das Tier vom Tor ab und hoppelte in eine andere Richtung weiter. Ein Frösteln, das nicht von der Kälte herrührte, durchlief den sehnigen Körper des Kriegers. Da hörte er ein Geräusch hinter sich und wirbelte herum. Ein weiterer Hase schleppte sich heran. Grauen erfasste den Naldar. Das Tier zog einen Lauf hinter sich her, sein Fell war zu großen Teilen ausgefallen und schien mit jedem Schritt in Büscheln das faulige Fleisch zu verlassen. Maden kringelten sich in offenen, schwärenden Wunden. Seine Augen waren nicht mehr als eitrige Löcher, und seine Löffel troffen von einer geblichen, stinkenden Flüssigkeit. Der Krieger sprang geistesgegenwärtig auf und lief einige Schritte, eher er einen Pfeil aus dem Köcher zog und das Tier erschoss. Angewidert warf er Schnee über den Kadaver, ehe er zu seinem Horn griff kräftig hineinstieß. Eine hohe, kaum hörbare Melodie entsprang dem Instrument und trug die Botschaft in die südlichen Lande: die Pestilenz hatte ihre Gestade erreicht! Das befestigte Winterlager der Streitkräfte des Feuers lag noch weit im Westen, wo nicht Schnee, sondern fallender Regen den Einbruch des Winters markierte. Um ein prasselndes Lagerfeuer hatten sich einige Streiter versammelt. Unruhige Gespräche wechselten hin und her, und obwohl man munkelte, der Imperator sei gefallen und das Schwarze Eis vernichtet, glaubte niemand so richtig daran. Nach all den Jahren des Krieges erschien das geradezu als kindisches Märchen. Fakt jedoch war, dass man seit der großen Schlacht am westlichen Siegel, in der unzählige Streiter der Elemente gefallen waren, bis man endlich das Portal erobern und unter Hilfe der Avatare den Sharuhn'Ar zurück und hindurch treiben konnte, nichts mehr von ihm gehört hatte. Erschöpft war man ins Gras gefallen und hatte auf Frieden gehofft. Gerüchte gingen um, der Sharuhn'Ar selbst habe den Imperator besiegt, und er habe das Schwarze Eis vernichtet. Andere besagten, der Imperator wäre in die Gestalt des Sharuhn'Ar gefahren und befehlige seine Truppen mit neuer Kraft. Wieder andere wussten zu berichten, dass der Sharuhn'Ar von der Magie selbst in den Menschen, der er einst war, zurückverwandelt worden sei. Doch sicher war sich niemand. Soldaten, die zufällig am Feldherrenzelt vorbeigingen, konnten darin schemenhaft gestikulierende Feldherren erkennen, die weitere Pläne besprachen und in ihrer Ratlosigkeit und Unsicherheit gegenüber dem Schicksal des Schwarzen Eises dem gemeinen Mann in nichts nachstanden. Zwei weitere Naldar hatten ihren Kameraden erreicht, der am Tor die Wacht gehalten hatte. Schweigend besahen sie den Kadaver, nickten einander mit ernstem Gesicht zu und gingen dann entschlossen auf das Tor zu. Behandschuhte Hände wischten den Schnee von den glatten Steinen, und es erschien ihnen wie ein Paukenschlag, als er schwer zu Boden fiel. Beinahe fühlten sie sich enttäuscht, als nichts passierte. Die Steine erzitterten nicht, und kein Kraftfeld spannte sich zwischen den Stelen, um das Verderben wieder in die Welt zu entlassen. Eine lastende Stille lag über dem Land. Und doch konnten die Krieger nicht Ruhe in ihre Herzen einkehren lassen, denn von dem Portal ging, so tot es auch dalag, weiterhin eine bösartige Aura aus. Als der Wächter am nächsten Morgen erwachte und nach einem kurzen Frühstück zum Tor hinüber sah, erstarrte er. Fußstapfen, vom fallenden Schnee kaum verweht, führten aus dem Tor heraus, einmal im Kreis und wieder hinein. Hektisch holte er sein Horn hervor und setzte es an seine Lippen, doch in seinen Augenwinkeln nahm er eine Bewegung war. Einer der Kämpfer vom Vortag trat neben ihn. ”Puste in das Horn, Kind des Windes. Künde ihnen davon, dass das Eis dabei ist, zurückzukehren.“ Die Söhne der Luft vernahmen den Ruf ihres Bruders, und sie machten sich zum Portal auf. Als sie dort ankamen, lag es noch immer so ruhig da wie sie es in Erinnerung hatten. Zwei weitere Naldar waren dort, so dass sie die gefällige Zahl von zweimal fünf Kämpfern erreichten. Die Spuren des Kundschafters waren inzwischen von den fallenden Flocken der weißen Pracht verweht, und doch spürten die Naldar seine frühere Anwesenheit. ”Sie werden bald zu uns zurückkehren“, sprach der erste Naldar mit besorgter Stimme. ”Wir sollten unsere Wacht beziehen.“ Ohne eine weitere Erwiderung verteilten sich die Naldar im Unkreis um das Tor. Die Tage zogen ins Land, und nichts geschah. Trotzdem verflog das Gefühl nervöser Anspannung nicht, dass sich der Naldar bemächtigt hatte. Sorgenvoll warteten sie auf das Ereignis, von dem sie inständig hofften, es möge nicht eintreten. Da spürten sie plötzlich ein leises Zittern durch den Boden gehen, und die Luft um sie herum begann aufgeregt zu singen: ”Gefahr! Gefahr!“ In großen, platschenden Brocken fiel der Schnee von dem Portal, zwischen dessen steinernen Umfassungen sich ein transparentes Kraftfeld zu materialisieren begann. Die Naldar fügten sich zu einem gemeinsamen Wall aus Leibern und legten Pfeile auf die Sehnen ihrer Bögen. Ein leises Knistern erfüllte die Luft, und für Sekunden hing das Kraftfeld still zwischen den Steinbögen. Da traten die ersten Rakhs in das Licht der Wintersonne. Jedes Mal, wenn sie ihren linken Fuß auf den Boden setzten, ertönte ein monotones ”Rakh!“, das zu einem Crescendo anzuschwellen begann, als immer mehr Gestalten aus dem Tor kamen. Die Naldar begannen zu schießen, und die ersten blau-schwarz gewandeten Gestalten fielen zu Boden und bedeckten ihn mit einer schwarzen Schicht sich verflüchtigender Essenz. Der Schwarm schwenkte auf die Naldar ein, die Pfeil um Pfeil gegen ihn anschossen. Bevor der erste Rakh die Naldar erreicht hatte, waren sie alle getötet. Die Kinder der Luft hielten inne und betrachteten ihr Werk. Der Schnee war geschmolzen, die braune Erde verunstaltet von zerflossener Essenz. Für Minuten lag nichts als Schweigen über dem Land, während die Reste des Schwarzen Eises von seinem Antlitz verschwanden. Dann traten erneut Rakhs aus dem Portal. Und dieses Mal endete der Strom nicht, der sich in die Lande des Südens ergoss.