Eroberung Mythodeas, Kapitel VII
Emsig hoben die Tunnelgräber Erde aus und hackten Wurzeln. Sie Monaten wühlten sie in den Eingeweiden Terras, um den Weg nach Süden freizuschaufeln. Die Langen Tunnel waren ein Ort großer Gefahr, und unaussprechliche Schrecken aus der Tiefe hatten schon manchen Arbeiter verschluckt. Immer wieder brachen sie durch Wurzelgeflecht, um sich den Schrecken der Kreaturen der Öligen Pestilenz gegenüberzusehen, die die Langen Tunnel als ihr Heim betrachtete. Mühselig gestaltete sich der Weg nach Süden.
Trotz aller Widernisse herrschte Hochstimmung unter den Menschen. Das Schwarze Eis war besiegt, erzählte man sich, vernichtet von den Schockwellen der Weißen Flamme. Nun, da der große Feind besiegt war wurde es Zeit, nach Süden vorzustoßen und das Siegel zu finden, um Mythodea seiner Bestimmung zuführen zu können. Sie hatten viele ihrer Gefährten begraben auf dem Weg hierher, doch die Verlockungen eines fruchtbaren Landes ließen sie unverzagt weitermachen. Die Ouai und die Naldar wiesen ihnen den Weg, und die Lona Akata marschierten an ihrer Seite. Die mysteriösen Linesti hatten sich nur Wenigen offenbart, doch bestand unter den Arbeitern kein Zweifel, dass sie ebenso freundlich und hilfsbereit sein würden wie die anderen Elementarvölker.
In letzter Zeit jedoch stießen die Siedler häufig auf Spuren der Linesti. Einzelne Gerätschaften in kleinen Höhlen, längst von den Zähnen der Zeit angegriffene Skelette und Lagerpunkte. Anstatt mit Aeris' Wurzeln, die immer seltener wurden, kämpften die Männer jetzt vielfach mit Einstürzen und zusammengebrochenen Verteidigungsanlagen. Alles war uralt und offensichtlich seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden nicht mehr gebraucht worden. Die staubtrockene Luft kratzte in den Lungen der Siedler, als sie einen weiteren kontrollierten Einsturz beseitigten. Der Anblick, der sich ihnen bot, verschlug ihnen den Atem: das Licht der mitgebrachten Laternen brach sich hundertfach in grünlichen Leuchtkristallen, die überall in der riesigen Höhle zu finden waren, in die sie gekommen waren. Wie eine ölige Schlange wand sich ein kleiner Fluss durch den Grund der Grotte, von einem dunklen Loch in ein anderes verschwindend. An den Wänden befanden sich wabenähnliche Gebäude, wohl noch aus der Zeit vor dem Weltenbrand und vielfach zerstört. Als die Männer die Leuchtkristalle aus dem Boden zogen, erloschen diese zu milchigen Augen in der alles umgebenden Dunkelheit. Zwischen zwei Wabenhäusern schlängelte sich der Weg weiter in die Dunkelheit nach Süden, und die Siedler folgten ihm. Eine ganze Weile lang mussten sie nicht mehr graben. Bald stießen sie auf eine Verbreiterung des Ganges. Der Weg war gepflastert, und obwohl die Steine vielfach gesprungen waren, ging die Reise leichter vonstatten. Meile um Meile wand sich die Straße durch Terras Eingeweide nach Süden. Die Laternen hatten die Männer längst gelöscht, denn das beunruhigende grüne Licht der Kristalle illuminierte den Fortgang der Reise. Immer häufiger stießen sie auf vertrocknete Skelette der Linesti und anderer Rassen, die sich wohl einen verzweifelten Kampf geliefert hatten. Ein gewaltiges Festungswerk beendete ihre Reise vorzeitig. Pickel und Schaufeln wurden herausgeholt, und man begann, sich durch die verfallenen Reste der Feste zu graben. Tag um Tag verging. Weitere Männer stießen hinzu und lösten die erschöpften ab. Die staubtrockene Luft verlangte ihren Tribut, und das Wasser musste über Meilen herangebracht werden. Nach Tagen endlich gelang der Durchbruch, und die Siedler blickten über die Reste einer einstmals großen Stadt.
Hunderte von Wabenähnlichen Häusern zogen sich die Wände der kathedralenhaften Grotte entlang. Der Boden war mit runden, über Jahrhunderte in Wasser geglätteten Steinen gepflastert. Die Luft war klamm und feucht, und von der Decke kam Wasser, mal in Tropfen, mal in kleinen Sturzbächen. Lärmendes Tosen erfüllte die Höhle, und die Männer konnten sich nur noch schreiend verständigen. Das Wasser umspülte ihre Knie, als sie durch die ehemalige Stadt wateten. Es war Salzwasser. Als sie die andere Seite erreichten, standen sie erneut vor einem zerstörten Bollwerk, deutlich stärker als das, durch das sie sich zuerst gegraben hatten. Mit vor Kälte steifen Fingern machten sie sich daran, weiterzugraben und quaderweise nassen Aushub zu beseitigen.
Tage später waren die Siedler wieder unterwegs durch die Langen Tunnel. Sie passierten wahre Gebeinfelder. Nur Rostflecken am Boden ließen erahnen, wo einst Rüstungen und Waffen neben ihren Besitzern am Boden gelegen hatten. Die klamme, feuchte Kälte wich nicht mehr von den Männern und blieb ihr ständiger Begleiter. Über weite Strecken wateten sie durch das kalte Meerwasser, das beständig von den Wänden und Decken tropfte. Die Pflasterung wurde rissiger, und bald begannen sich die Langen Tunnel wieder zu verengen. Seit Tagen marschierten sie durch die Dunkelheit und fanden kaum Schlaf. Des Nachts wisperten Stimmen und baten um Erlösung, und ein leichter Luftzug schlich durch die Gewölbe. Die Gänge begannen steil abzufallen und tiefer in die Eingeweide Terras hinabzuführen, dorthin, wo nach den Legenden der Linesti der Erdkern liegen musste, belagert von den Antielementen. Immer wieder mündeten die Langen Tunnel in kleinere Grotten, unbewohnt und doch auf merkwürdige Weise verlassen scheinend. Die runde Form der Gänge, die die Männer so lange begleitet hatte, machte mehr und mehr einer roheren Bauweise Platz. In den Höhlen fanden sich nun häufiger steinerne Haufen, die gut einmal Hütten gewesen sein konnten. Schließlich mündete der Gang erneut in einer Höhle von gewaltigen Ausmaßen. Zahlreiche Stalaktiten und Stalagmiten hatten ein bizarres Maul geformt, und ein verwirrter Geist hatte zahlreiche Steinplatten behauen und dazwischen gezogen, um so Hütten zu schaffen. Verwittert und wohl schon seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden verlassen, und doch war den Siedlern, als seien sie nicht allein. An einer Stelle hing sogar ein verwittertes, schwarzes Banner mit einem weißen Totenschädel, und dasselbe Symbol fand sich auf diversen Steinen eingraviert und ebenso verwittert. Frösteln überkam die Männer, als sie die Siedlung durchquerten. Die Höhle schien kein Ende zu nehmen, doch endlich waren sie an ihrem Ende angelangt. Die Langen Tunnel spalteten sich in zwei Wege; der eine führte weit in die Tiefe, der andere wieder nach oben. Die Siedler wählten den Weg nach oben.
Tage und Wochen weiterer Reise führten sie aufwärts. Oftmals mussten sie wieder graben, und die Strapazen machten sich bei allen bemerkbar. Nur wenige Bruchstücke von Nachrichten erreichten sie. Die Armee der Elemente habe sich aufgelöst, hieß es. Gründe dafür drangen nicht in die Tiefe vor. Fast ein Dreivierteljahr waren sie nun unter der Erde, als sie endlich wieder auf Spuren der Zivilisation stießen: ein gewaltiges Tor, übersäht mit Symbolen Terras - und verschlossen. Ein leiser Luftzug wehte durch die Ritzen und brachte den würzigen Geruch von Wald und Wiesen mit sich.